Wenn ich an der Kindheit etwas vermisse, dann ist es zumeist die grenzenlose Fantasie gepaart mit dem Sinn für Abenteuer. Lego-Städte werden real, der Schulkeller wird zum geheimnisvollen Labyrinth, Balgereien mit Freunden werden zu epischen Kämpfen um das Schicksal der Welt. Selbst wenn ich wollte könnte ich soviel Imaginationskraft heute nicht mehr aufbringen.
Ich will jetzt nicht etwa darauf hinaus, dass es für diesen Fall ja Videospiele gibt, denn Videospiele gab es in meiner Kindheit auch, und das ist natürlich nicht dasselbe. Worauf ich hinauswill ist, dass ich vor kurzem ein Videospiel beendet habe, dass es geschafft hat, dieses Gefühl der Kindheit auf erstaunlich ehrliche, authentische und tiefsinnige Weise einzufangen und mich damit ungewöhnlich stark zu berühren. Ich spreche von Mother 2, im Westen besser bekannt als EarthBound.
Erzählen wir zunächst kurz die ganze Geschichte. 1989 erschien in Japan für das Famicom ein Rollenspiel namens Mother, erdacht vom Autor und Werbetexter Shigesato Itoi (Bild). Statt wie Dragon Quest oder Final Fantasy in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt, war Mother in den USA der Gegenwart angesiedelt, wo es allerdings nie offiziell erschien. Da Mother ein großer Erfolg in Japan war, folgte 1994 auf dem Super Famicom die Fortsetzung Mother 2. Dieses Spiel schaffte nun auch den Sprung nach Amerika, wo es unter dem Titel EarthBound veröffentlicht wurde (in Europa ist es nie erschienen). In Japan wiederum erfolgreich, floppte es im Westen. Über die Jahre hinweg jedoch konnte EarthBound auch in den USA und dem Rest der Welt eine äußerst leidenschaftliche Fangemeinde aufbauen.
Genug des Hintergrunds, was ist denn an EarthBound nun so besonders? Ben "Yahtzee" Croshaw beschrieb es unlängst in seiner pointierten Art als "cross between the Cthulu mythos and the Charlie Brown and Snoopy Show". Eine herrliche Beschreibung natürlich, wenngleich mich das Spiel doch eher an Stephen Kings Es erinnert hat als an den Cthulu-Mythos. Im Großen und Ganzen geht es darum, dass Giygas, der außerirdische Invasionsanführer aus Mother, abermals auf der Erde einfällt um ihre Eroberung vorzubereiten. Und es geht um vier Kinder, die selbstverständlich auserwählt wurden ihn aufzuhalten. Schauplatz sind abermals die USA der Gegenwart (hier Eagleland genannt). Als Waffen dienen Baseballschläger, Schleudern, Jojos und Bratpfannen, als Magieersatz PSI-Kräfte.
Man unternimmt eine verrückte Odysee durch die große, äußerst abwechslungsreiche Spielwelt, erforscht Städte, Höhlen, geheime Anlagen und fremde Dimensionen, bekämpft Monster, Hippies und Verkehrsschilder, lernt neue Freunde kennen und bewältigt diverse Krisen, die Giygas Einfluss auf der Erde ausgelöst hat. Dabei sammelt man acht Melodien, durch die man seine Kraft mit der der Erde bündeln und so schließlich Giygas gegenübertreten kann. Ich will nicht zuviel verraten, aber man erlebt im Laufe seiner (langen) Reise wirklich eine ganze Menge. Nicht nur, dass es einfach Spaß macht, diese wunderbar überzeichnete und liebevoll gestaltete Welt zu erforschen, EarthBound ist auch eines jener Spiele, bei dem man spürt, das Entwickler alles Mögliche hineingeschmissen haben, was sie selbst schon immer spielen wollten. Ich liebe das in Videospielen, genau wie ich Musikalben liebe, auf denen der Künstler mit jedem Song einen neuen Stil ausprobiert.
Apropos: Diese wunderbare Verspieltheit findet sich auch im experimentierfreudigen Soundtrack wieder. Nicht nur, dass er so gut wie alle Sparten abdeckt, von der Ohrwurm-Schnulze bis zur avantgardistischen Lärm-Collage, er brilliert auch tatsächlich in allen Bereichen. Hier wurde alles ausprobiert, der SNES-Soundchip zum Kochen gebracht, und praktisch jedesmal ins Schwarze getroffen. Hat man EarthBound durchgespielt, gibt es kaum ein Stück, das man vergessen hat, und jedes ist untrennbar mit einem bestimmten Ort oder Ereignis aus dem Spiel verknüpft. Manchmal verbergen sich genial-verrückte Ideen und Twists in den Songs, oftmals sind es aber auch lediglich schöne, einfache Kompositionen. Immer wieder habe ich im Spiel etwa ein Hotel nur betreten um die wundervolle Hotel-Rhumba noch einmal zu hören.
Die Gameplay-Mechanik ist die eines klassischen Japano-RPGs. Man kämpft rundenbasiert, levelt auf, kauft Ausrüstung, löst kleine Rätsel etc. Zwei Besonderheiten gibt es allerdings. Zum einen den Health-Meter, der die Gesundheit der Partymitglieder nach einem Treffer nicht mit einem Schlag reduziert, sondern sie langsam genug senkt, dass man mit einem schnell genug verabreichten Nahrungsmittel oder PSI-Spruch noch Trefferpunkte retten und vielleicht sogar den Tod verhindern kann. Zum anderen, und das gefällt mir persönlich am besten, gibt es keine wirklichen Zufallskämpfe. Zwar wimmelt es in manchen Gebieten von Feinden, die sind jedoch stets zu sehen und mit etwas Glück und Geschick kann man ihnen auch ausweichen oder sie gar von hinten überraschen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in EarthBound ist der Humor. Ich habe vorhin schon Hippies und Verkehrsschilder als Gegner erwähnt und das gibt schon mal einen ganz guten Eindruck. EarthBound ist voll mit verrückten Brechungen, popkulturellen Anspielungen, und es übernimmt zwar die meisten JRPG-Konventionen, tut das aber mit einem deutlichen Augenzwinkern. Manche gehen soweit, das Spiel überhaupt als eine pure Parodie auf JRPGs zu bezeichnen, was mir allerdings doch etwas zu kurz greift. EarthBound funktioniert auf vielen Ebenen - allein über das verstörende Finale etwa könnte ich einen eigenen Aufsatz schreiben.
Kann man auch etwas Schlechtes über EarthBound sagen? Nun, mich persönlich hat wahrscheinlich am meisten der begrenzte Inventarplatz gestört. Man kann zwar Gegenstände glücklicherweise fast jederzeit abholen und lagern lassen, aber nichtsdestotrotz verbringt man viel zu viel Zeit mit lästigem Itemmanagement. Weiters kann sich die Grafik nicht unbedingt mit etwa zeitgleich erschienenen Genrekollegen wie Final Fantasy VI oder Chrono Trigger messen, und große Storytwists und psychologisch vielschichtige Charaktere wird man ebenfalls vergeblich suchen. Die Hauptfiguren sind mehr oder weniger klassische Stereotypen, die dazu einladen, sie mit eigenen Vorstellungen zu füllen. Was bei diesem Spiel aber erstaunlich gut funktioniert, da es so sehr die eigene Kindheit wachrüttelt, dass man sich zwangsläufig an den reichen Streber, den bösartigen Fettsack oder das süße Mädchen aus der ersten Klasse erinnert.
Das ist überhaupt das Erstaunliche an EarthBound; nicht nur, das man spürt, wieviel Liebe und Herzblut in die Entwicklung geflossen ist, sondern auch wie gut hier die Essenz des Kindseins verstanden und mit beachtlicher Tiefe umgesetzt wurde. EarthBound ist in meinen Augen neben vielen anderen Aspekten das definitive Werk zum Thema Kindsein, und es zeigt einmal mehr wie Videospiele künstlerischen Wert haben können, da es kein anderes Medium gibt, das sich für dieses Sujet so perfekt geeignet hätte.
2006 ist übrigens für den Game Boy Advance das langersehnte Mother 3 erschienen - allerdings bis heute nur in Japan.
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Links:
- Starmen.net - Anlaufstelle Nr.1 für EarthBound/Mother-Fans
- Bester. Werbespot. Ever.
- Das meinte ich mit "leidenschaftliche Fan-Gemeinde".
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