Donnerstag, Oktober 05, 2006

Bücher-Sommer 2006


Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist.
- Elias Canetti

Die Uni hat wieder begonnen; es ist Zeit den Lese-Sommer Revue passieren zu lassen. Viel war es nicht, aber es hat sich alles gelohnt, wie ich finde. Sachbücher, Comics und Kurzgeschichten lass ich jetzt mal außen vor, übrig bleiben sieben Romane und ein Drama.


Thomas Bernhard: Frost

Eigentlich wollte ich im Sommer ja mehr lesen, aber dann habe ich überraschenderweise sehr lange gebraucht, um mich durch dieses erste Buch zu kämpfen, was meine Pläne so gut wie über den Haufen geworfen hat. Nicht dass Bernhards erster Roman schlecht wäre - er ist nur anstrengend und dabei nicht gerade aufregend.

Ein junger Medizinstudent wird von einem Kollegen in die Provinz geschickt, um dessen Bruder - den exzentrischen alten Maler Strauch - zu beobachten. So pirscht sich der Protagonist an den Sonderling heran und es entsteht so etwas wie eine Freundschaft, die vorwiegend daraus besteht, dass der Maler lange nihilistische Monologe hält, die man auch gut als Aphorismensammlung für Selbstmörder verkaufen hätte können. Mit der Zeit stellt der Protagonist mit einer Mischung aus Angst und Faszination fest, dass ihn das Ausgeliefertsein an die verbitterte Weltsicht des Malers zusammen mit der morbiden Atmosphäre des Dorfes auch selbst zu verändern beginnt.

Der Roman zählt auf jeden Fall zum deprimierendsten, die ich je gelesen habe. Mit welch negativer Wucht hier das Portrait des in einem Tal eingeschlossenen österreichischen Provinzdorfes und seiner Bevölkerung entworfen wird, ist wirklich beeindruckend. Das ganze Buch hindurch herrscht eine geradezu unmenschliche Kälte, sowohl in meteorologischem, als auch in jedem anderen erdenklichen Sinn. Trotzdem: Ich konnte einfach keinen Zugang finden; besonders die Gedankengänge des Malers waren für mich einfach nicht nachvollziehbar, so sehr ich mich auch bemüht habe. Aus meiner Sicht ist es - überspitzt ausgedrückt - einfach das sinnlose Gebrabbel eines Geisteskranken. Eine Zeit lang habe ich überlegt, einen Maler Strauch-Simulator zu programmieren, der per Zufallsprinzip Worte und Satzfetzen so aneinanderreiht, das man glaubt, eine Stelle aus Frost vor sich zu haben. Vielleicht mach ich das eines Tages noch mal.


Ian Fleming: Casino Royale

Ich war eigentlich nie ein großer James Bond-Fan (die meisten Filme finde ich über weite Strecken langweilig), aber auf den neuen Film bin ich doch irgendwie gespannt, schließlich stellt er meinen ersten bewusst miterlebten Bond-Darsteller-Wechsel dar. Da man sich wieder einmal bei einem Fleming-Roman bedient hat, habe ich entschlossen ihn zu lesen, um beim Film besser mitreden (sprich: klugscheißen) zu können. Endlich weiß ich jetzt was die Fans meinen, wenn sie sich einen "härteren, zynischeren Bond wie in den Büchern" wünschen. Dass Bond in Flemings Casino Royale ein Mensch ist und kein Comic-Superheld war wohl die größte Umstellung für mich. Die relativ simple Handlung besteht grob gesagt aus drei Akten, von denen sich jeder ein bisschen anders anfühlt. Der erste, in dem Bond einen feindlichen Agenten beim Bakkarat abzocken muss, ist hierbei der beste und spannendste. Ohne zuviel weiteres zu verraten: Der zweite ist dann fast schon erschreckend düster und hart, während der dritte ruhig und meditativ ist. Insgesamt würde ich sagen, dass Casino Royale ganz okay ist, aber da ich mir eigentlich eine spaßige Agentengeschichte erwartet hatte, hat mich der zynische Tonfall dann doch etwas geschockt.


William Shakespeare: Hamlet

Natürlich kennt jeder Hamlet und weiß in etwa worum es darin geht, aber ich wollte es einmal wirklich lesen. Und wurde überrascht. Über seine Bedeutung und Vielschichtigkeit brauchen wir nicht zu diskutieren, aber das Drama um den dänischen Prinzen ist noch dazu verdammt spannend und unterhaltsam. Was lernen wir daraus: Man sollte sich vom Respekt vor großen Werken der Weltliteratur nicht auffressen lassen, sonst kann einem ein tolles Lesevergnügen entgehen. Das trifft übrigens auch auf Faust I. zu. Ehrlich.


Franz Kafka: Der Prozess

Also Kafka mag ja nun wirklich jeder. Mainstream. Aber der Mann ist eben einfach gut. Auf der einen Seite diese verstörenden menschlichen Urängste, auf der anderen Seite dieses moderne Gefühl der Entfremdung in einer durchbürokratisierten Gesellschaft... Ich habe viele Lieblingsstellen im Prozess, die ich hier liebend gerne nacherzählen oder beschreiben würde, doch ist das leider so gut wie unmöglich. Aber Kafka kennt und liebt ja wie gesagt sowieso jeder, also weiter zum nächsten Büchlein.


Paul Auster: Die New York-Trilogie

Das sind jetzt eigentlich drei kurze Romane, nämlich Stadt aus Glas (City of Glass), Schlagschatten (Ghosts) und Hinter verschlossenen Türen (The Locked Room). Ich habe mir vorgenommen diese Trilogie zu lesen nachdem ich Austers Filmprojekte Smoke und Blue in the Face gesehen hatte. Diesen Sommer habe ich das Vorhaben nun verwirklicht und wurde mit einem interessanten, auf jeden Fall außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt. Den ersten Teil der Trilogie, Stadt aus Glas, kann ich auf jeden Fall bedingunglos weiterempfehlen. Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller Daniel Quinn, der in einen höchst sonderbaren Kriminalfall und dabei in eine Art Identitätskrise gerät, von der keine der Figuren im Roman (und darüber hinaus) verschont bleibt. Es entsteht ein komplexes Netzwerk aus falschen Identitäten, Alter Egos und vermeindlich zufälligen Parallelen und Spiegelbildern, so dass jedes Individuum mehrere Ebenen bekommt, die sich wiederum untereinander überschneiden... Verwirrt? Keine Sorge, das ist keines der etlichen Bücher, dass den Leser mit zig Nebenfiguren samt ihren komplizierten Verwicklungen zumüllt, so dass man irgendwann völlig entnervt das Handtuch wirft. Auster baut die Geschichte sehr sauber und durchdacht auf - statt den Leser mit hemmunglosem Informationüberfluss zu überfordern, liefert er Ansätze und Doppelbödigkeiten, die ihm Raum lassen und ihn zum Nachdenken anregen. Gefiel mir sehr gut. Schlagschatten und Hinter verschlossenen Türen sind auch nicht schlecht, allerdings habe ich sie nicht mehr mit demselben Vergnügen gelesen wie Stadt aus Glas, an dessen Gewitztheit und Komplexität sie meiner Meinung nach nicht herankommen.


Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall

Nach dem äußerst anstrengenden Frost hatte ich ja eigentlich erstmal genug von Bernhard und ihn für diesen Sommer abgeschrieben gehabt. Aber dann stolperte ich eines Abends durch Zufall in das Kulturprogramm von ORF 2.

Mit dem Kulturprogramm im ORF ist es ein bisschen wie am Anfang von Per Anhalter durch die Galaxis, als Arthur Dent eines Morgens aufwacht und ein Bulldozer sein Haus abreißen will. Er protestiert, aber Prosser, der Fahrer des Bulldozers, argumentiert, dass die Pläne für den Abriss die letzten neun Monate im Planungsbüro ausgelegen wären:

Prosser: "Aber die Pläne lagen aus..."
Arthur: "Lagen aus? Ich musste schließlich erst in den Keller runter..."
Prosser: "Da werden sie immer ausgehängt."
Arthur: "Mit einer Taschenlampe."
Prosser: "Tja, das Licht war wohl kaputt."
Arthur: "Die Treppe auch."
Prosser: "Aber die Bekanntmachung haben Sie doch gefunden, oder?"
Arthur: "Jaja, das habe ich. Ganz zuunterst in einem verschlossenen Aktenschrank in einem unbenutzen Klo, an dessen Tür stand Vorsicht! Bissiger Leopard!"

Na jedenfalls sah ich dort eine Wiener Festwochen-Aufzeichnung von Bernhards Dramolett-Trilogie Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen mit Claus Peymann und Hermann Beil. Dabei habe ich mich so glänzend amüsiert, dass ich beschloss, den Sommer mit Bernhards Opus Magnum Auslöschung zu beschließen, von dem mir versichert wurde, dass es besser zu lesen sei als Frost. Eine gute Entscheidung, denn jetzt bin ich mit Bernhard wieder vollends ausgesöhnt.

Der in Rom lebende Protagonist Franz Josef Murau erfährt, dass seine Eltern und sein Bruder bei einem Unfall ums Leben kamen, was ihn zum Haupterben und Verwalter des Familienanwesens Wolfsegg in seinem Geburtsland Österreich macht. Allerdings ist ihm das nicht besonders angenehm, da er Wolfsegg, Österreich und so ziemlich alles was damit zusammenhängt zutiefst verabscheut. Den ersten Teil des Buches verbringt er am Fenster seiner Arbeitszimmers in Rom stehend und sich zurückerinnernd an die Zeit mit seiner ihm verhassten Familie. Im zweiten Teil kehrt er für das Begräbnis nach Wolfsegg zurück.

Man könnte Bernhard vorwerfen, dass er Murau einfach wahllos alles beschimpfen lässt, das ihm einfällt - so einfach ist die Sache allerdings nicht. Als Leser ist man ständig hin- und hergerissen, immer im Zweifel, was man denn nun von diesem Kerl halten soll. Gerade wenn man sich völlig von ihm mitreissen lässt, relativiert er sich im nächsten Moment schon wieder selbst, indem er sich korrigiert, sich widerspricht oder - was so gut wie immer der Fall ist - dermaßen übertreibt, dass es schon wieder komisch wirkt. Außerdem reflektiert Murau durchaus auch über sich selbst, bezeichnet sich sogar dezidiert als "Übertreibungskünstler". Nicht nur das führt auch dazu, dass man sich immer wieder fragt, wieviel von Bernhard denn nun in diesem Murau steckt - auf den ersten Blick immerhin eine ganze Menge. Vielleicht sollte man darüber gar keine Gedanken machen und die Auslöschung einfach ganz entspannt als ungemein gut geschriebene und vollkommen überzogene Satire auf die österreichische Gesellschaft lesen, die laut Murau ausschließlich aus Katholiken und Nationalsozialisten besteht. Meistens beides in einem.

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